Der 18. März ist international bekannt als der „Tag der politischen Gefangenen“. An diesem Tag soll an den Aufstand der Pariser Kommune im Jahr 1871 erinnert werden, „aber auch an ihre Zerschlagung und die folgende Repression. (…) 1923 erklärte die Internationale Rote Hilfe (gegründet 1922) den 18.03. zum ‚Internationalen Tag der Hilfe für die politischen Gefangenen‘. Nach dem Faschismus gab es erst wieder 1996, auf Initiative von Libertad und der Roten Hilfe, einen Aktionstag für die Freiheit der politischen Gefangenen. Seitdem finden jedes Jahr Veranstaltungen und Aktionen statt.“1
Der 18. März ist folglich ein Tag, welcher lediglich für sogenannte „politische“ Gefangene angedacht ist. Doch was meint das Wort „politisch“? Welche Gefangene fallen in diese Kategorie, welche nicht? Und wer entscheidet über die Trennlinie?
Offensichtlich gibt es in der linksradikalen Szene eine Deutungshoheit darüber, welche Straftaten2 als „politisch“ zu betrachten sind. Vereine, Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen entscheiden darüber, welche Taten und demzufolge Gefangene als „politisch“ gelesen werden können und welche als „sozial“. Den „sozialen“ Gefangenen wird dabei zugeschrieben, dass ihre Taten im gesellschaftlichen, nicht aber im politischen Zusammenhang stehen. Als Soligruppe Berlin der GG/BO wollen wir diese Trennung überwinden und den ausgerufenen „Tag der politischen Gefangenen“ inhaltlich neu besetzen.
Politik und Gesellschaft sind zwei Begriffe, die nicht nur miteinander in Verbindung stehen sondern sich absolut bedingen. Eine klare Trennlinie würde bedeuten, dass die Politik die Gesellschaft nicht benötigt oder dass die derzeitige Gesellschaft unabhängig von der Politik existieren würde.
Wenn wir dementsprechend Taten und Handlungen nicht in derzeitige politische Verhältnisse einbetten, sondern sie davon loslösen würden, müssten wir davon ausgehen, dass die derzeitigen politischen Verhältnissen keine große Rolle für das gesamtgesellschaftliche Leben spielen.
Derzeitig wird am meisten nach Kapital- Eigentums oder Wirtschaftsdelikten gefahndet. Die Mehrheit, welche hinter Gittern verwahren muss, sitzt also eben wegen solcher Delikte. Dementsprechend sollten die meisten Straftaten von Menschen, welche sich selbst als anti-staatlich und anti-kapitalistisch begreifen, mindestens begrüßt werden, wenn nicht sogar die vollste Unterstützung erfahren. Diese Unterstützung fällt derzeitig allerdings meist aus – so auch am ausgerufenen „Tag der politischen Gefangenen“. In der Theorie werden oft Phrasen verlautbart, welche von vielen in der Praxis nicht umgesetzt werden oder keine Solidarität erfahren. Wenn zum Beispiel von Individuen, Gruppen oder Organisationen „Nimm was dir zusteht!“ aufgerufen wird, erfahren Menschen, welche im Knast sitzen, wenig bis keine Solidarität, wenn sie einen Supermarkt ausgeraubt haben. Welche Praxis kann aber diese Phrase besser umsetzen, als zum Beispiel ein Ladendiebstahl?
Aber auch wenn Taten moralisch nicht nachvollziehbar sind, können wir uns mit gefangenen Menschen solidarisieren. Dabei sollten wir uns zunächst die Frage stellen, warum bestimmte Taten unsere Vorstellung von Moral widersprechen und welche Gesellschaft wir anstreben. Wollen wir die neuen Richter*innen sein, welche festlegen, was in Ordnung ist und was nicht? Welche moralischen Grenzen wollen wir3 aufziehen? Wer kontrolliert diese dann und mit welchen Mitteln?
Wenn sich dafür entschieden wird, Richter*innen zu spielen, würde das unserer Vorstellung einer hierarchiefreien und anti-autoritären Gesellschaft auf jeden Fall widersprechen. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns mit allen Taten solidarisieren und die Moral in den Mülleimer schmeißen sollen.
Wir müssen auf jeden Fall eigene Grenzen ziehen und festlegen, was wir in Ordnung finden und was eine Grenzüberschreitung darstellt und nicht verhandelbar ist (z.B. jegliche Form von Diskriminierung und Übergriffen). Allerdings kann für Menschen, welche diese Grenzen überschritten haben, Knast keine Perspektive sein. Knast verschärft gesellschaftliche Konflikte, anstatt sie zu lösen. All das, was wir außerhalb der Anstaltstore erleben, gegen was wir kämpfen und versuchen uns zu wehren, finden wir hinter Gittern noch einmal – allerdings gebündelter und in viel krasserer Form.
Der Kapitalismus spiegelt sich beispielsweise in der Ausbeutung von Gefangenen wieder, denn sie verdienen nur einen Hungerlohn für ihre Zwangsarbeit. Die Hierarchien innerhalb der Gesellschaft und die staatliche Autorität spiegelt sich in den Machtpositionen der Justizbeamt*innen gegenüber den Gefangenen wieder. Ebenso verhält es sich mit der Diskriminierung und Unterdrückung: im Knast ist mehr als offensichtlich, wer in der Position der Herrschenden und Beherrschten ist und welche Konsequenzen für die jeweiligen Positionen folgen.
Die derzeitigen (europäischen) Entwicklungen steuern auf autoritäre faschistische Regimes zu. Knast spiegelt diese Entwicklungen wieder. Hinter Gittern passiert das gleiche, was wir draußen erleben – nur noch schneller, gebündelter und extremer. Wundern sollte das nicht. Knast ist, ebenso wie andere ausführende Organe des Staates, Teil des Repressionsapparates. Trotzdessen gibt es einige Menschen in der linksradikalen Szene, welche gegen verschärfte Bullengesetze und knüppelnde Cops demonstrieren, gleichzeitig aber an der Legitimität des Knastes als staatliche Zwangsinstitution festhalten. Das entspricht für uns keiner staatsfeindlichen Analyse. Wenn wir uns eine befreite Gesellschaft vorstellen, ist Knast und damit alles, was hinter Gittern passiert, von unseren Ideen am weitesten entfernt.
Die Abschaffung von Staat, Herrschaft, Kapital und allen Unterdrückungsmechanismen erfordert deswegen auch die Abschaffung von Knästen. Wenn Knast als Teil der ausführenden Organe des Staates begriffen wird, müssen auch alle Gefangene als „politisch Gefangene“ gelten. Eine Unterscheidung unter Gefangenen wird dementsprechend unnötig.
Wir solidarisieren uns mit allen Menschen als „Personen in staatlicher Gefangenenschaft“. Wir rufen alle dazu auf, den 18. März dafür zu nutzen, sich ebenfalls solidarisch mit allen Gefangenen zu zeigen. Die Solidarität kann dabei vielfältig sein: begleitet den Rheinmetall – Prozess um 9 Uhr im Amtsgericht Berlin, Turmstraße 91, schreibt Gefangenen Briefe, demonstriert auf den Straßen, vernetzt und organisiert euch, nutzt den gesamten Tag und die Nacht und seit dabei kreativ.
1https://www.rote-hilfe.de/77-news/453-18-maerz-2013-internationaler-tag-der-politischen-gefangenen
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